Wehmut im Dunkeln
Während ich die Hautür hinter mir zuziehe, schlägt mir ein kalter Wind entgegen. Mit ihm wehen mir Regentropfen und die eine oder andere Schneeflocke ins Gesicht. Blätter werden über den Gehweg gefegt. Genau so wollte ich es. Den Kopf frei pusten lassen von allem Ballast, der sich in den letzten Wochen und Monaten angesammelt und viel mehr Platz eingenommen hat, als ich es eigentlich wollte.
Jetzt, an meinem letzen Abend auf der Insel bin ich mir gar nicht so sicher, ob das funktioniert hat. Mein Weg führt mich durch den Dunkelheit ein letztes Mal auf die Seebrücke. Während ich über die hölzernen Planken laufe, höre ich die Wellen an die Pfeiler der Brücke klatschen. Das schwache Licht der Laternen lässt das Meer nur erahnen. Eine merkwürdige Stimmung überkommt mich: Dankbarkeit, so viele Begebenheiten in den letzten Tagen erlebt zu haben, aber auch Wehmut, diesen Ort verlassen zu müssen. Zeit, so merke ich wieder einmal, empfinden wir Menschen immer nur relativ. Bin ich nicht gerade noch auf der Herfahrt gewesen? Lagen all diese Tage voller Vorfreude nicht eben noch vor mir?
Und haufenweise unbeschwerte Entdeckungen wollte ich machen. Es ist so lange her, dass ich hier war! Die Kamera in meinem Gepäck wird sicherlich zum Einsatz kommen, war mir bereits während der Anreise klar. Aber mehr noch habe ich mich auf das echte, das unmittelbare Erleben gefreut. Kein Bild der Welt kann das in Gänze festhalten.
Sehn-Sucht
An diesem Abend sind kaum noch Menschen auf den Straßen unterwegs. Ich werde all das hier vermissen, dessen bin ich mir sicher. Werde ich wiederkommen? Ich meine, genau an diesen Ort? Vielleicht.
Fast automatisch kommt mir der Begriff „Sehnsucht“ in den Sinn. Was ist das für ein eigenartiges Wort?
Sich nach etwas „sehnen“, steckt darin. Ein tief empfundenes Verlagen nach etwas oder jemandem.
„Sucht“ kann in diesem Zusammenhang als emotionales Bedürfnis verstanden werden. „Sehnsucht“ ist daher das intensive Streben nach etwas, das nicht greifbar oder gegenwärtig ist. Je länger ich über den Begriff nachdenke, desto mehr mag ich ihn. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich seinen Klang eher weich und geschmeidig oder schroff und hart finde. Wahrscheinlich beinhaltet er für mich beides.
Vielleicht liegt es aber auch in der Natur dieses Wortes. Sehnsucht beschreibt nicht nur ein einfaches Verlangen, sondern ein bittersüßes Gefühl, das Freude und Schmerz gleichzeitig in sich trägt. Die Freude liegt in der Hoffnung und dem Streben, der Schmerz in der Unerfülltheit.
Orte der Sehnsucht
Auf einem Schild am Steilufer habe ich vor ein paar Tagen den Begriff „Sehnsuchtsort“ gelesen. Auch das Wort mag ich. Mir gefällt die Vorstellung, dass Sehnsüchte an bestimmten Orten befriedigt werden und Menschen in sich ruhen können.
Sehnsucht findet ihren Ausdruck oft in Orten. Orte, die wir nie besucht haben, die uns jedoch magisch anziehen. Oder Orte, die wir aus Erinnerungen kennen, die zu einem Zufluchtsort in unserer Phantasie geworden sind. Sehnsuchtsorte sind keine gewöhnlichen Reiseziele. Sie sind Projektionen unserer Träume, Hoffnungen und Wünsche. Sie sind der Ort, an dem wir glauben, unser wahres Ich zu finden.
Diese Orte, sei des der weite Horizont am Meer oder ein uriger Wald, sind nicht nur geografische Punkte.
Für mich sind sie regelrechte Anker für meine Emotionen. Sehnsuchtsorte sind mehr als ein Zufluchtsort für unsere Gedanken. Sie geben uns Perspektive und Inspiration. Wenn wir uns in sie hineinträumen, gewinnen wir Abstand von unserem Alltag. Dieser Abstand schafft Raum für neue Ideen, für Kreativität und Mut, die nächsten Schritte zu wagen.
Wie wird es sein, wenn ich morgen wieder abreisen muss?
Manchmal reicht schon der Gedanke an unseren Sehnsuchtsort, um uns in schwierigen Zeiten Kraft zu geben. Vielleicht ist es der Glaube, dass wir diesen Ort eines Tages erreichen. Vielleicht ist es auch die Erinnerung an die Gefühle, die er in uns auslöst. Sehnsuchtsorte helfen uns, nach vorne zu blicken und an Möglichkeiten zu glauben, die noch vor uns liegen.
Vielleicht brauchen wir Sehnsuchtsorte, weil sie uns daran erinnern, dass es immer etwas gibt, auf das wir uns freuen können. Sie geben uns die Zuversicht, dass das Leben voller schöner Orte und Momente ist, die nur darauf warten, von uns entdeckt zu werden.
Und irgendwie stelle ich beim Heimweg zur Ferienwohnung fest: Ein Sehnsuchtsort ist für mich vor allem ein emotionaler Begriff. Es es ein Ort, an dem das Herz verweilt.
Diese Insel, diese Seebrücke, dieser Ort – all das nehme ich nicht nur in Gedanken, sondern auch im Herzen mit nach Hause. Beim Aufschließen der Haustür meiner Ferienwohnung merke ich, dass ich an diesem letzten Abend nicht nur Wehmut in mir trage. Es ist auch Dankbarkeit.